Was ist eigentlich Arbeit, wie wird sie definiert? Das momentane Hartz-IV-System fasst den Arbeitsbegriff sehr eng und sanktioniert Menschen, die dem nicht entsprechen. Wer nicht auf der Straße enden will, geht dann Not-wendigerweise für einen Euro jobben. Doch die Zukunft braucht Arbeitsmodelle jenseits von Zwang und Unterordnung. Jetzt macht sich eine Bürgerbewegung auf, die Gesetze wieder zu beleben, die eigentlich genau das garantieren sollen. Unter dem Motto Wir-sind-Boes fordert sie die Abschaffung der Sanktionen im Hartz-IV-System und unterstützt den Philosophen Ralph Boes in seinen Erneuerungsbestrebungen hin zu freier, selbstbestimmter Arbeit.
Es ist der erste November 2012, der Tag, an dem unsere Arbeit in der Bürgerinitiative plötzlich nicht mehr so weiter gehen kann wie zuvor. Meine persönliche Entscheidung ist, jetzt ganz für die Sache da zu sein. Ralph Boes hat seit heute kein Geld für Essen mehr. Das war so geplant. Doch jetzt muss die Öffentlichkeit erfahren, worum es geht.
Ralph Boes ist seit sechs Jahren im Vorstand der Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen. Das Interesse an diesem Thema ist in den letzten Jahren so gestiegen, dass er inzwischen deutschlandweit Vorträge zu dem Thema hält. Meist können es sich die Veranstalter allerdings gerade so leisten, ihm die Fahrtkosten zu erstatten, so dass er immer seinen Schlafsack mitnimmt, bei den Initiatoren übernachten darf und sich vielleicht noch ein Essen bezahlen lässt. Sogar die Bundeszentrale für politische Bildung beurteilt seine Vorträge als „von erheblichem Bundesinteresse“ und stellt sie als besonders gelungene Bildungsarbeit auf ihre Webseite. Doch nicht alles, was an sich wertvoll ist, bringt Geld. So lebt Ralph Boes von Hartz IV. Wer solche Sozialleistungen beantragt, muss eine sogenannte „Eingliederungsvereinbarung“ (EGV) unterschreiben. Wer dies nicht tut, erhält die EGV per Verwaltungsakt, das heißt, sie wird auch ohne Unterschrift für gültig erklärt. Von einer echten Vereinbarung kann also keine Rede sein. In diesem Schriftstück sollen die gegenseitigen Pflichten vereinbart werden. Immerhin habe der Steuerzahler eine berechtigte Erwartung auf eine Gegenleistung von einem Menschen, der Hartz IV empfängt, schreibt das Sozialministerium. Prophylaktisch fügt das Amt eine Rechtsfolgenbelehrung bei: „Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass bei einem wiederholten Verstoß gegen die mit Ihnen vereinbarten Bemühungen das Ihnen zustehende Arbeitslosengeld II um einen Betrag in der Höhe von 60 Prozent der für Sie maßgebenden Regelleistung abgesenkt wird. Bei weiteren wiederholten Pflichtverstößen entfällt ihr Arbeitslosengeld II vollständig. (…) Führen die Leistungskürzungen dazu, dass gar kein Arbeitslosengeld II mehr gezahlt wird, werden auch keine Beträge zur Kranken- und Pflegeversicherung abgeführt.“
Das Recht auf sinnvolle Arbeit
Ralph Boes hält diese Praxis für grundgesetzwidrig und das Betteln um Essensmarken für entwürdigend. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil von 2010 schon festgestellt, dass das Existenzminimum unverfügbar ist, was bedeutet, dass es nicht unterschritten werden darf. Es durch Sanktionen zu unterschreiten, wäre demnach ein Verfassungsbruch. Die Bedrohung mit Sanktionen betrifft inzwischen allerdings Millionen Menschen, da sie jeden Leistungsberechtigten nötigt, auf einen Arbeitsmarkt zurückzudrängen, der ihn – oft brutal – ausgeworfen hat. Viele Tausende wurden dadurch schon ins Elend getrieben und verlieren die Kraft, sich zu wehren. Dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend, sinken durch die Überzahl an Arbeitsfähigen zudem die Löhne. Doch was ist, wenn man Vollzeit ehrenamtlich arbeitet?
Mit der Frage, ob der Staat inzwischen schon verbieten darf, das zu tun, was Sinn macht, schrieb Ralph Boes eines Tages einen Brandbrief. Darin heißt es: „Ab heute widerstehe ich offen jeder staatlichen Zumutung, ein mir unsinnig erscheinendes Arbeitsangebot anzunehmen oder unsinnige, vom Amt mir auferlegte Regeln zu befolgen. Auch die durch die Wirklichkeit längst als illusorisch erwiesene Fixierung auf `Erwerbsarbeit` lehne ich in jeder Weise ab. Ich beanspruche ein unbedingtes Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, welches ich einer von mir selbst gewählten, mir selbst sinnvoll erscheinenden und mir nicht von außen vorgeschriebenen Tätigkeit widmen darf…“ Mit dieser Weigerung, für irgendeinen 1-Euro-Job zur Verfügung zu stehen, war der Grundstein gelegt, selbst sanktioniert zu werden. Das trat nach über einem Jahr absonderlichen Schriftwechsels mit dem Jobcenter (der in dem Angebot einer individuellen privilegierten Behandlung gipfelte, wenn Boes eine Spezialvereinbarung unterschrieben hätte) auch ein, als er einen Job im Callcenter und in einer Zeitarbeitsfirma ablehnte. Die Folge war eine Kürzung des Lebensminimums um 90 Prozent. Es blieben 37,40 Euro pro Monat.
Zwangshungern
Die Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen und die Berliner Kampagne gegen Hartz IV waren schon länger darauf vorbereitet, dass Ralph die Sanktionen erhalten und in Folge davon kein Geld mehr für Essen haben würde. Also hungerte er. Er wollte von Freunden, Bekannten und Unterstützern auch keine Spenden für Essen, denn bei der ganzen Sache ging es um Grundsätzliches: nicht nur um Boes selbst, sondern ganz allgemein um die Abschaffung des Hartz-IV-Gesetzes im Sinne der Menschenwürde. Jetzt kam Bewegung in die Sache. Die Webseite wir-sind-boes.de wurde innerhalb eines Tages gebastelt. Falls Ralph seine Kräfte verlieren würde, sollte hier weiter über die Aktion berichtet werden. Ein erster Pressebericht wurde geschrieben, in dem es heißt: „Mit der Einstellung der lebensnotwendigen Nahrungsaufnahme macht Ralph Boes auf den brutalen Zwang des Sanktionsregimes aufmerksam.“ Ein Presseverteiler wurde gemeinsam erstellt, Anwälte ausfindig gemacht und Arbeitsteams gebildet. Täglich wurde nun Ralphs Gewicht gemessen und veröffentlicht. Zwei gute Freundinnen kamen zur Unterstützung, und wir machten aus Ralphs Wohnung unsere Aktivisten-Zentrale. Dabei warfen wir auch immer unsere achtsamen Blicke auf Ralph, während dieser seine Blicke auf unser Essen warf. Allerdings ging es ihm erstaunlich gut. Er fuhr sogar nach Bremervörde, um dort einen Vortrag zu halten. Noch am Bahnhof gab er ein Interview für eine Berliner Zeitung. Zunehmend erklärten sich Initiativen mit uns solidarisch, Betroffene schrieben uns an. Auf unserem Anrufbeantworter war schon lange der Spruch zu hören „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir nur in Sonderfällen zurückrufen können“, da einfach die Zeit fehlte, die Seelsorge zu betreiben, die nötig gewesen wäre. Denn ständig riefen Betroffene an, um uns ihr Leid über Hartz IV zu klagen.
Kein Geld mehr zum Essen
Der Presse entglitt das Thema jedoch zusehends. Obwohl Ralph nur zeigen wollte, was die Sanktionen für Konsequenzen haben, nämlich kein Geld mehr für Essen zu haben, legte die Presse die Aktion als Hungerstreik aus. So schrieb ich deshalb am 14.11. in unserer Pressemitteilung: „Dass jemand in Deutschland hungert, dies aber kein Hungerstreik ist, sondern direkt durch das Verhalten der Behörden ausgelöst wurde, wirkt ebenso befremdlich wie die Tatsache, dass ein Mensch sanktioniert wird, obwohl er arbeitet und nicht etwa, weil er Arbeit verweigert.“ Während ein Hungerstreik etwas gewesen wäre, um die Behörden zu etwas zu zwingen, lag der Fall hier gerade anders herum. Ralph wurde das Geld für Nahrungsmittel verweigert, um ihn zu zwingen, einen Job anzunehmen und behördenkonformes Verhalten zu zeigen. Währenddessen hatte unser Aktionsteam schon Mahnwachen organisiert, Reden gehalten, Flyer verteilt, Kreidesprüche auf die Straßen geschrieben und viel gefilmt. Es war beeindruckend zu sehen, wie viel Unterstützung wir erhielten. Ein Aktivist lief nur noch mit einem Schild vor der Brust herum: „Abschaffung der Sanktionen! Grundrechte für alle!“ Ein anderer führte ganz alleine weiter Mahnwachen vor den Grundgesetztafeln am Reichstagsufer durch. Die vielen Zuschriften und Solidaritätsbekundungen berührten mich. Die Linken und die Grünen meldeten sich zu Wort und boten Hilfe und Kooperation an. Katja Kipping, die Parteivorsitzende der „Linken“, schrieb einen offenen Brief an Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und forderte erneut die Abschaffung der Sanktionen. Die Grünen beschlossen einige Wochen später ein Sanktionsmoratorium. Alles kam ins Rollen, und wir staunten nicht schlecht, als eines Tages sogar der Postbote fragte, ob hier der Ralph Boes wohne und dass er unsere Aktion unterstützen wolle. Über drei Wochen lang folgte eine Aktion der anderen, während Ralph nicht aß. Am 25. November erreichte uns die Mitteilung vom Jobcenter, dass aus rechtlich-formalen Gründen die Sanktionen nicht zulässig gewesen seien. Ralph bekam also wieder das nötige Geld zum Essen. Aber das war auch der Moment, an dem sich erneut aberwitzig zeigte, dass das Jobcenter noch nicht einmal innerhalb des eigenen (Un-)Rechtssystems verständlich, klar und korrekt agieren kann.
Auch ohne Hungern: Das Thema war nun heiß gelaufen und zog seine Kreise. Am vierten Dezember saß Ralph schließlich mit seinem roten Schal, den er immer trägt, im Schneidersitz, so wie er immer sitzt, auf dem Sofa von Sandra Maischberger. Ich hatte Angst. Würde er ruhig bleiben können bei all den Angriffen? Während man einerseits in der Sendung jegliches Unrecht im Hartz-IV-System verharmloste und Ralph belächelte, wurde andererseits wieder das Lied der Vollbeschäftigung gesungen. Der bayerische Finanzminister Markus Söder nannte die Hartz-IV-Gesetzgebung ein gelungenes Beispiel für die deutsche Wirtschaft und verwies auf die gesunkenen Arbeitslosenzahlen. Dabei verschwieg er aber, dass der deutsche Armutsbericht gerade mitgeteilt hatte, dass die Stellen allein im Niedriglohnsektor zugenommen haben. Ein Musterbeispiel guter neoliberaler „Volkserziehung“ gab schließlich eine Putzfrau, die, ebenfalls in der Runde bei Maischberger sitzend, hervorhob, für knapp acht Euro brutto die Stunde schuften zu gehen, um ihren Kindern ein gutes Vorbild zu sein.
Was gilt als Arbeit?
Obwohl Ralph betonte, dass er ebenfalls Vollzeit tätig sei, galt einzig seine Arbeit vielen Zuschauern nicht als Arbeit. Und das, obwohl auch Heinrich Alt, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, der ebenfalls in der Runde saß, Herr Söder und Frau Kipping direkt von Steuergeldern leben, die sogar um ein Mehrfaches höher sind. Uns ereilten Zuschriften, Herr Boes möge verhungern, denn wer nicht arbeitet, sollte keine Unterstützung mehr erhalten. Es sei zu schade, dass es keine Arbeitslager mehr gäbe, in die man ihn stecken könnte, und er solle sich schämen für sein Schmarotzertum.
Arbeit im Wandel
Unser Arbeitsbegriff ist offensichtlich auf Unterordnung und auf Gelderwerb ausgelegt. Selbstgewählte Arbeit um der Sache willen ist uns eher fremd. Dabei hat Ralph nie gegen die Arbeit gesprochen. Im Gegenteil. Er schreibt: „Ich spreche jede Arbeit heilig, die aus einem inneren ernsten Anliegen eines Menschen folgt. Unabhängig davon, ob sie sich äußerlich oder innerlich vollzieht und unabhängig davon, ob sie einen ‚Erwerb‘ ermöglicht oder nicht.“
Und der Arbeitsmarkt wandelt sich gerade enorm. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts musste man das erste Mal begreifen, dass in Folge der Industrialisierung die erhöhte Arbeitslosigkeit ein wirtschaftliches Phänomen war. Anstatt die Menschen in einen Arbeitsmarkt einzugliedern, der sie längst schon nicht mehr braucht, gilt es heute, die Menschen freizustellen. Wenn etwas einzugliedern ist, dann das Sozialgesetz in das Grundgesetz, denn aus diesem ist es inzwischen herausgefallen. Es gilt nicht mehr, was grundgesetzlich veranlagt ist. 1949 sollte mit dem Grundgesetz ein für alle Mal die Würde des Menschen unantastbar sein, das Recht auf freie Berufswahl gelten und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Ralph sagte letztens auf die Frage, was wir tun: „Wir erneuern die Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen!“
Während das derzeitige Arbeitsethos verhärtet ist wie Zement, brechen doch erstaunlich viele kleine Pflänzchen aus dem Boden hervor und künden von einer neuen Zeit. Denn es ist einmalig, in einer Gesellschaft zu leben, die so reich ist an Gütern und so wenig menschliche Arbeitskraft dafür braucht. In seinem Film „Ziviler Widerstand“ spricht Ralph über das Recht auf Faulheit: Auch wenn das gerade nicht das Hauptthema sei - eine freiheitliche Gesellschaft müsse sogar ein Recht auf Faulheit gewähren. Denn positiv verstanden ist Faulheit Muße, und das sei das Element der Selbstvertiefung. In Griechenland einst ein hohes Ideal, führte es zur Gründung der Demokratie und unserer Kultur. Es gilt, die Bedingungen für ein förderliches Zusammenleben zu erschaffen. Und da braucht es inneren Raum – eben Muße. Einkommen kann heute nicht länger an Lohnarbeit gebunden sein.
Miteinander in Würde leben
Gerne möchte ich für mein Leben geltend machen, was Ralph schrieb, und es in seinem Namen zum Leitstern eines neuen Arbeitsbegriffes erheben: „Ich verpflichte mich, sowohl den Anforderungen, die aus dem Leben der Gesellschaft an mich herankommen, als auch den Anforderungen, die aus meinem eigenen (auch inneren) Leben und aus demjenigen, das aus meinem persönlichen Umfeld entspringt, umfänglich und in freier Weise zu begegnen und dabei jederzeit die Würde meiner selbst wie auch die Würde der Dinge und Wesen um mich herum zu achten und zu schützen.“ Das ist für mich das Credo und der Grundstein der Bewegung „Wir-sind-Boes“. Denn nach der Aufgabe, die Menschenwürde zu achten, steht es an, auch die Würde der Tiere und Pflanzen zu wahren, in der Erkenntnis, dass wir uns alle gegenseitig Sinn geben und diese Erde teilen.