„Burnout ist der Selbstregulierungsmechanismus eines Systems, das nicht mehr ganz up-to-date ist“, sagt der spirituelle Lehrer Thomas Hübl. Und: „Wir finden immer äußere Gründe, warum wir ausgebrannt sind. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir anerkennen, dass wir ab einem gewissen Punkt nicht mehr verantwortungsvoll mit uns und unserem Leben umgegangen sind.“ Silke Weiss sprach mit Thomas Hübl über die Gründe der neuen „Volkskrankheit“ und was wir dagegen tun können.
Burnout ist mittlerweile ein Phänomen, das wie eine Volkskrankheit immer mehr Berufsgruppen umfasst. Was ist das für eine Qualität unserer Zeit, dass wir uns nicht nur gefordert, sondern oft überfordert fühlen?
Die Qualität der Zeit spielt hier tatsächlich eine Rolle. Durch die Kommunikationstechnologie ist die Geschwindigkeit, mit der wir Informationen verarbeiten, innerhalb einer Generation rasant gestiegen. Der menschliche Körper passte sich bisher über mehrere Generationen den Veränderungen seiner Umwelt an. Das heißt, unsere Zeit fordert unseren Organismus ständig heraus und setzt ihn einer Daueraktivierung aus. Erst klingelt das Handy, dann kommt hier eine E-Mail und dort piepst der Blackberry – alles zusammen lässt kaum noch Phasen zu, in denen sich unser System entspannen kann.
An sich ist die Aktivierung unseres Organismus etwas Gesundes, weil sie die Kreativität anregt. Doch wenn die Aktivierung des Nervensystems immer mehr zunimmt, dann werden ab einem gewissen Punkt Symptome entstehen. Missachten wir diese Symptome, finden wir irgendwann den Ausschaltknopf nicht mehr. Dann wissen wir nicht mehr, wie wir uns entspannen können. Diese Überaktivierung ist wie ein Dauerstress, den wir nicht mehr selbst beenden können. Auch nicht, wenn wir es wollen. Das ist der Beginn von Burnout.
Welche Persönlichkeitsstrukturen führen eher dazu, dass ich in solch einen Zustand komme, in dem ich sage: "Ich kann nicht mehr"? Und was erwartet die Gesellschaft von uns, dass so viele sagen: "Ich kann nicht mehr"?
Schauen wir uns zunächst die individuellen Stressfaktoren an, dann die kollektiven und dann, wie sie sich überlagern. Wenn unser Körper in Balance ist, hat er eine hohe Kompetenz, Stresseinflüsse zu kompensieren. Ab wann ist nun der Körper so überlastet, dass diese Funktion nicht mehr zur Verfügung steht? Wenn wir in unserer Kindheit eine gesunde Entwicklung durchgemacht haben, sind wir in einem Zustand von Balance aufgewachsen. Viele Menschen wachsen aber nur in einigen Bereichen ihres Lebens in einem Balance-Zustand auf, in anderen Bereichen nicht. Sie sind dann schon von vornherein in diesen Bereichen starr oder in extremen Fällen traumatisiert. Traumatisiert bedeutet, dass Erfahrungen nicht verarbeitet werden konnten, weil sie zu intensiv waren. Das führt dazu, dass diese Menschen permanent einen erhöhten Stresspegel in sich tragen.
Im Prinzip hat jeder von uns schon einen speziellen Grad von innerem Stress in sich. Doch wenn ich individuell halbwegs gesund in meinem Leben stehe, kann ich einen großen Teil von dem systemischen Stress gut abpuffern. Sobald aber in mir eine Art von Überlastung entsteht, wird das einen höheren Stresslevel in mir verursachen. Und Überlastung entsteht überall dort, wo ich nicht ganz integriert bin in meiner Entwicklung. Wenn jetzt in einer Firma zum Beispiel die Menschen Situationen nicht klar sehen können und deshalb immer wieder in Konflikte geraten, raubt ihnen das Energie. Deshalb kommen sie abends nach Hause und fühlen sich müde.
Auch Menschen, die Aktivitäten nachgehen, die nicht ihrer Kernkreativität entsprechen oder die viel Widerstand mit sich bringen, sagen nach der Arbeit: "Ich bin total erledigt." Sind wir aber in unserer ursprünglichen Kreativität, fördert das unsere Aktivität. Wenn wir wirklich in unserem Element sind, dann sind wir vielleicht körperlich müde, aber nicht ausgelaugt. Unsere Kreativität ist das, was uns auffüllt. Die Motivation unserer Arbeit und unsere Kernenergie schwingen dann zusammen. Wenn meine Motivation nicht aus meiner Kernkreativität kommt, sondern aus konditionierten oder egoistischen Verhaltensweisen, werde ich mich in Systemen wie in Firmen in einer Weise verhalten, die nicht meiner authentischen Art entspricht. Je weiter das, was ich mache, von dem entfernt ist, was ich wirklich machen möchte, desto größer ist die Spannung. Und Spannung bedeutet Energieverlust. Das kann zu einem chronischen Zustand werden. Und dann suchen wir uns selbst in den Phasen von Entspannung noch Dinge, die uns weiter aktivieren. Wenn wir uns entspannen würden, müssten wir ja die ganze Spannung, die vielen Gedanken und die Unruhe in uns spüren. Also lesen wir lieber Zeitung, konsumieren Unterhaltung oder machen andere Dinge, die uns weiter aktivieren, anstatt einfach mal still zu werden für zehn Minuten, um mit dem zu sein, was ist.
Haben wir keine guten Praktiken, die uns dabei helfen, wieder runterzufahren, kann es sein, dass wir in einer Spirale immer weiter in die Überforderung hineingehen, bis wir sagen: „Ich kann nicht mehr.“ Doch vorher gab es schon eine lange Vorgeschichte von Symptomen, auf die wir nicht gehört haben. Weil wir den Anforderungen gerecht werden wollten, unseren Ruf wahren wollten oder unser Geld verdienen mussten... Wir finden immer äußere Gründe, warum das so ist. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir das wieder zu uns zurücknehmen und anerkennen, dass wir ab einem gewissen Punkt nicht mehr verantwortungsvoll mit uns und unserem Leben umgegangen sind.
Man hat auch festgestellt, dass Burnout vor allem dann auftritt, wenn am Arbeitsplatz die Anforderungen steigen und gleichzeitig die Möglichkeit sinkt, sich kreativ auszudrücken. Welche Rolle spielt also das System dabei?
Das System setzt sich ja immer aus Individuen zusammen. Das heißt, ein System kann nur Überforderung produzieren, wenn alle, die daran beteiligt sind, dem auch zustimmen. Es ist leicht zu sagen: „Die Firma verlangt das von mir.“ Aber die Firma besteht im Endeffekt auch nur aus denjenigen, die dort arbeiten.
Spannung ist ja oft eine Entwicklungsspannung. Das heißt, wenn in einer Firma viel Spannung herrscht, ist das auch eine Chance, sich weiterzuentwickeln. Menschen können entweder destruktiv auf Spannung reagieren und sie in Krankheit, Widerstand, Konflikt oder Burnout kanalisieren. Oder sie folgen der Spannung und kanalisieren sie in Kreativität. Das heißt, sie entwickeln das System Firma weiter. Das braucht aber vor allem eine verantwortliche Beteiligung. Wenn zu viele Menschen die Verantwortung abgeben, kommen die Impulse, die eine Veränderung bringen würden, nicht zustande. Sobald wir uns nur über die Systeme beschweren, in denen wir leben oder arbeiten, entwickeln wir uns nicht. Menschen, die sich entwickeln, beschweren sich nicht. Sie entwickeln sich weiter.
Burnout ist also der Selbstregulierungsmechanismus eines Systems, das nicht mehr ganz up-to-date ist. Systeme, die nicht mit der Entwicklung mitgehen, werden immer Symptomatiken erzeugen. Wenn wir darin eine Entwicklungschance sehen, macht es keinen Sinn, das System so weiterzuführen. Machen wir aus Gewohnheit einfach weiter, wird das System immer mehr blockieren und immer mehr Menschen werden entsprechende Symptome hervorbringen.
Systemische Spannungen können sich zum Beispiel durch Menschen kanalisieren, die dafür offen sind. Manche Menschen haben also Beschwerden, die nicht nur ihre persönlichen sind, sondern auch systemische. Vor allem sensitive Menschen, die eine spirituelle Veranlagung haben, können zu Ventilen werden für solche Spannungen im System. Das kann ein möglicher Grund für Burnout sein. Ein anderer Grund kann natürlich sein, dass Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung irgendetwas übersehen haben. Jeder Mensch ist in einem Entwicklungsprozess. Oft entsteht Stress, wenn wir nicht respektieren, wohin wir uns gerade entwickeln wollen, und dann länger in einem System oder in einer Situation bleiben als notwendig. Der Deckel auf unserer Entwicklung macht dann Druck und wird als Stress erlebt. Es ist eigentlich eine evolutionäre Spannung, die uns sagt: "Ich möchte mich weiter entwickeln."
In einer gesunden Gesellschaft müsste es also ein Anliegen sein, die Menschen in ihrem Potenzial zu erkennen und ihnen zu ermöglichen, dieses Potenzial zu leben.
Genau. Die gesunde und nachhaltige Form einer Gesellschaft bildet sich dann, wenn wir alle daran interessiert sind, das Potenzial in unseren Mitmenschen zu fördern. Dadurch fördern wir auch die inhärente Kreativität des Lebens an sich.
Was sind die Werkzeuge, die uns dabei helfen, einem Burnout vorzubeugen?
Gewisse Meditationstechniken dienen dazu, zentriert zu bleiben. Und durch regelmäßiges Meditieren lernen wir, diesen zentrierten und ruhigeren Zustand auch in Stresssituationen in uns zu halten. Dann reagieren wir weniger aus Verhaltensmustern, sondern handeln mehr aus dem heraus, was gerade stattfindet. Diesen positiven Effekt können aber auch Körperübungen haben wie zum Beispiel Yoga, Tai Chi oder Qi Gong. Alles, was uns mit dem Körper verbindet. Unser Körper ist ein guter Anker, um im Augenblick präsent zu sein. Regelmäßige Körperübungen helfen uns, unsere Energie wieder runterzufahren und im Boden zu verankern. Denn bei einem Burnout zieht es die Energie mehr nach oben in den Verstand. Eine andere Praxis ist gesunde Ernährung. Frische oder biologische Nahrungsmittel geben uns mehr Energie als Nahrungsmittel, die industriell produziert sind. All das zusammen schafft eine gute Grundlage.
Und eine weitere Anforderung ist die interpersonelle Klärung. Wenn ich bei meiner Arbeit mit Kollegen immer wieder die gleichen Konflikte habe, trägt das mehr zu meinem Stress bei als die Arbeit, die ich zu tun habe. Wir müssen also lernen zu sehen, wo Konflikte aus Unbewusstheit entstehen. Auf diese Weise trage ich sowohl zu meiner Stressreduktion bei als auch zu einem gesünderen System.
Und was kann ich machen, wenn ich schon akut im Burnout bin?
Für viele Menschen im Burnout ist es wichtig, dass sie eine kompetente Unterstützung bekommen. Das kann ein Therapeut sein, eine Klinik oder einfach ein kompetenter Mensch. Sobald wir wissen, dass wir in einer zu hohen Aktivierung sind, müssen wir Dinge tun, die uns dabei unterstützen zu entspannen. Auf dem Weg dorthin müssen wir allerdings durch eine unangenehme Phase hindurch. Denn wenn sich etwas stark aufgeladen hat, dann muss sich das erst wieder entladen. Und der Prozess des Entladens kann unangenehm sein. Deswegen versuchen wir das meistens zu verhindern, indem wir noch mehr tun. Irgendwann können wir aber einfach nicht mehr "mehr" tun.
Die Pfeiler, die ich vorher genannt habe, sind auch wichtig für Menschen, die eine Burnout-Behandlung bekommen oder einfach selbst dafür sorgen wollen, dass sie wieder runterkommen: Meditation, Achtsamkeitstechniken, körperorientierte Techniken, eine gesunde Ernährung, Sport oder Bewegung. Ich muss Verantwortung dafür übernehmen, dass das physische System, also der Körper, meine Emotionen und Gedanken, wieder landen können. Gleichzeitig brauche ich eine interpersonelle Klärung, eine Klärung der Ursache, damit das nicht wieder passiert. Denn irgendwann in meinem Leben hat eine Unverantwortlichkeit begonnen, und jetzt ist es wichtig, zu sehen, wo ich aus meiner Spur gekommen bin. Da ist ja etwas auf meinem Weg passiert, das mir nicht bewusst war, sonst wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Wenn wir lernen, was wir an diesem Punkt verpasst haben, ist das schon ein Entwicklungsschritt.
Wie sollte denn ein Arbeitsplatz gestaltet sein, damit Menschen dort mehr aufgefangen werden?
Wenn wir erkennen, dass es neben dem materiellen Erfolg auch Erfolg auf einer sozialen und nachhaltigen Ebene geben kann, werden wir sehen, dass die menschlichen Ressourcen genauso in unser Nachhaltigkeitsdenken einfließen müssen wie die materiellen Ressourcen, mit denen wir arbeiten. Die menschliche Entwicklung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Wenn der Arbeitsplatz dies nicht leistet, werden die guten Leute weggehen, weil sie spüren, dass sie sich hier nicht weiterentwickeln können. Andere Menschen werden nicht den Mut haben zu gehen, aus welchen Gründen auch immer, und dabei immer mehr Stress aufbauen und unglücklich werden.
Angenommen, wir könnten Firmen Punkte für alle Intelligenzebenen geben, also auch für soziale, emotionale oder spirituelle, dann könnte der Arbeitnehmer kommen und sagen: "Okay, diese Firma hat einen grünen Punkt, aber keinen sozialen und keinen Entwicklungspunkt - deswegen gehe ich da nicht hin." Die Firmen, die das wiederum bieten, werden mehr gute Leute anziehen, weil diese wissen, dass sie sich dort weiterentwickeln können und holistisch gesehen werden. Wenn eine Firma nur profitorientiert bleiben möchte, kann sie das machen. Aber das wird früher oder später dazu führen, dass verantwortliche Menschen dort nicht mehr arbeiten. Auf diese Weise balanciert sich das Leben mit der Zeit von selbst.
Und wie könnte ein Bildungssystem aussehen, das weniger Symptome produziert?
Wenn unser Bildungssystem die interpersonelle Kompetenz mitfördert, das heißt, dass Menschen darin lernen, zentriert zu bleiben, in Gruppendynamiken zu sein, ihre eigenen Unklarheiten selbstverantwortlich zu sehen und zu integrieren, dann haben wir schon mal weniger mit den Auswirkungen von Unklarheiten im System zu kämpfen. Unser Bildungssystem sollte meiner Meinung nach anerkennen, dass spirituelle Intelligenz, genauso wie künstlerische, emotionale oder intellektuelle Intelligenz, einen Platz braucht. Die spirituelle Dimension hat einen hohen Wert für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen. In modernen oder postmodernen Gesellschaften erscheint sie aber nur am Rande. Ich glaube, sie muss in die Mitte geholt werden zu den anderen Kernkompetenzen.
Oft bilden Menschen mit einer hohen spirituellen Intelligenz Kompensationsmechanismen aus, um ihre Kernkompetenz zu umgehen, weil sie in unserem Bildungssystem nicht angesprochen wird. Diese Menschen empfinden sich dann im Leben nicht in ihrer Spur. Und wenn jemand von Grund auf nicht in seiner Spur ist, gibt es mehr Reibung. Diese Menschen sind natürlich anfälliger für Burnout. Sie wissen aber oft nicht, was sie ändern können, und laufen in dem System mit, bis es irgendwann so anstrengend ist, dass sie es nicht mehr aushalten und kollabieren.
Sobald uns das bewusst wird, werden wir ein holistisches Bildungssystem aufbauen, das alle Menschen in ihrem Potenzial fördert. Das ist, glaube ich, eine Anforderung an die Zukunft. Und dann werden auch weniger Menschen geschädigt aus dem Bildungssystem hervorgehen, nur weil man ihre Kernkompetenz nicht erkannt hat. Das wäre ein Riesenschritt.
Du sprichst oft davon, dass wir auf dem spirituellen Weg irgendwann anfangen, uns nicht mehr so wichtig zu nehmen, und stärker in das Geben gehen. Menschen, die vom Burnout betroffen sind, sind aber oft Menschen, die sehr viel geben oder zumindest geben wollen. Gibt es da nicht einen Widerspruch?
Das Gute an unserer spirituellen Entwicklung ist, dass wir zwar in unserer Persönlichkeitsstruktur immer durchlässiger werden, aber gleichzeitig immer mehr von einer inneren Kraft gefüllt werden. Das macht den Unterschied. Menschen wollen gerne und auch aus guten Motiven geben. Die Frage ist nur, ob sie genug innere Ressourcen dafür haben. Die spirituelle Dimension gibt uns Anbindung. Das ist so, als würden wir einen Stecker in der Steckdose haben. Je mehr wir innerlich an diese innere Kraft angebunden sind, desto leichter und länger können wir geben.
Es kommt sehr auf die Motivation an, mit der wir geben. Je reiner und klarer diese Motivation mit unserem inneren Kern übereinstimmt, desto weniger werden wir ausgelaugt sein. Deswegen sind Menschen, die innerlich zentriert sind, so lange leistungsfähig. Aber sie sind nicht leistungsfähig aus ihrem Ego heraus, sondern es laufen einfach Kreativität und Energie durch sie hindurch. Die Energie kann aus der Anbindung heraus fließen und erzeugt ein authentisches Geben. Je mehr Ideen wir über das Geben haben und je weniger wir aus der authentischen Verbindung heraus geben, desto anstrengender wird das für uns sein. Die spirituelle Praxis ist wie eine Tankstelle, die uns immer mit Energie versorgt. Je mehr Energie reinfließt, desto mehr können wir geben. Und je mehr wir geben, desto mehr fließt rein.